Zeitschrift

 - Soziale Milieus 
Politische und soziale Lebenswelten

 

 

Heft 2-3/2016

Hrsg: LpB



 

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Inhaltsverzeichnis
 

  

Einleitung

Soziale Milieus – Politische und soziale Lebenswelten


Das vorliegende Heft „Soziale Milieus – Politische und soziale Lebenswelten“ will eine Bestandsaufnahme von Modellen der Gesellschaftsanalyse, von deren Erkenntnissen und gesellschaftspolitischen Implikationen vornehmen. So geht es zum einen um die Frage, wie die Sozialwissenschaften auf gesellschaftliche Realitäten zugreifen. Zum anderen darum, wie sozialwissenschaftliche Erkenntnisse genutzt werden (können), um politische Entscheidungen vorzubereiten.

Der Begriff Sozialstruktur ist ein Schlüsselbegriff der Gesellschaftsanalyse. Aufgabe der Sozialstrukturanalyse ist es, die wichtigsten Strukturelemente in einer Gesellschaft zu erfassen und ihren Einfluss sowie ihre Wechselwirkung auf das soziale Handeln und die Positionen, Funktionen und Statuszuweisungen im gesellschaftlichen Gefüge zu bestimmen. Die Sozialstrukturanalyse umfasst die gesamte Bandbreite von der Demographie über die traditionelle Klassen-, Schichten- und Mobilitätsforschung bis zur Lebensstilanalyse. Die Frage, welche sozialen Strukturen als zentral gelten und in der Sozialstrukturanalyse berücksichtigt werden, hat zu unterschiedlichen Ansätzen geführt, die Rainer Geißler im einführenden Beitrag erörtert.

Das Modell der Sozialen Milieus ist ein Mittelweg zwischen Klassen- bzw. Schichtanalyse auf der einen und Lebensstilansätzen auf der anderen Seite. Die vergleichsweise stabile soziokulturelle Landkarte der Sozialen Milieus fasst soziale Gruppen mit ähnlichen Wertorientierungen, Lebenszielen und alltagsästhetischen Vorlieben zusammen. Die Milieuanalyse nimmt den ganzen Menschen in den Blick und versucht all jene subjektiven und objektiven Merkmale zu erfassen, die die soziokulturelle Identität von Menschen konstituieren. Durch die zunehmende Globalisierung der Märkte hat sich die Milieuforschung auf zahlreiche weitere Länder ausgedehnt. Auf europäischer Ebene lassen sich aktuell elf transnationale Milieusegmente unterscheiden, die von Jörg Ueltzhöffer skizziert werden.

Nach Jahrzehnten ökonomischer Prosperität und wachsender materieller sowie sozialer Angleichung verschärfte sich nach den 1970er Jahren die soziale Ungleichheit. Seit dem Jahr 1973 stieg die Arbeitslosigkeit stetig an. In der Folge wurde die Einkommens- und Vermögensverteilung immer ungleicher. Die soziale Ungleichheit war immer weniger mit dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung in Einklang zu bringen. Dennoch hielten sich Proteste und politische Konflikte als Reaktion auf die gewachsene Ungleichheit in Grenzen. Die Folgen sozialer Ungleichheit wurden in Deutschland weitgehend privat verarbeitet. Die Stabilität der Gesellschaft war durch die gewachsene Ungleichheit der vergangenen vier Jahrzehnte – so ein Fazit von Stefan Hradil – nie wirklich gefährdet, wenngleich in Teilen des gesellschaftlichen Gefüges durchaus ein Auseinanderrücken zu konstatieren ist.

In klassischen Modellen der Sozialstrukturanalyse taucht die Kategorie „Geschlecht“ überhaupt nicht oder nur am Rande auf. Erst die feministische Theorieentwicklung und die genderorientierte Wissenschaft haben Geschlechterverhältnisse als Erklärungsvariable für soziale Ungleichheiten in den Fokus sozialwissenschaftlicher Forschung gerückt. Die feministische Theorieentwicklung hat nicht nur patriarchale Machtverhältnisse und bestehende Ungleichheitsmodelle thematisiert und erweitert, sondern mit Nachdruck auf die Verknüpfung verschiedener Ungleichheitslagen hingewiesen, die soziale Positionen und Ungleichheitsverhältnisse konstituieren. Clarissa Rudolph zeichnet in ihrem Beitrag die Stationen der feministischen Theorieentwicklung nach und präsentiert empirische Befunde zu Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis.

Als Steuerungsinstrument zielt kommunale Sozialplanung auf die Gestaltung sozialer Lebensbedingungen und auf Teilhabe im Rahmen kommunaler Daseinsvorsorge. Eine der Kernaufgaben ist die kommunale Sozialberichterstattung, die soziale Fakten und Entwicklungen so aufbereitet, dass sie argumentativ nutzbar und grundlegend für kommunale Planungsprozesse sind. Während soziale Milieus in der Stadtforschung zunehmend Verbreitung finden, haben sie in der kommunalen Sozialberichterstattung aus mehreren Gründen ein Akzeptanzproblem. Der Beitrag von Silke Mardorf erklärt, woran das liegen könnte und warum hier auf der analytischen Ebene auch künftig kein Trend in Richtung Milieuansatz erkennbar ist, während soziale Milieus auf der Handlungsebene, d. h. wenn es darum geht, bestimmte Zielgruppen zu erreichen, immer wichtiger werden könnten.

In der Forschung wird gegenwärtig in einer Vielzahl von Beiträgen die These der Auflösung der Mittelschicht diskutiert. Diesem Thema widmet sich der Beitrag von Nina-Sophie Fritsch und Roland Verwiebe. Der Fokus der Analyse liegt dabei auf einem Vergleich zwischen Deutschland und anderen europäischen Ländern, insbesondere mit den strukturell ähnlich geprägten Vergleichsfällen Österreich und Schweiz. Inhaltlich werden unter Verwendung unterschiedlicher europäischer Daten Schichtzugehörigkeiten und Schichtdynamiken über einen Untersuchungszeitraum von mehr als 15 Jahren betrachtet (1996–2013). Die Ergebnisse zeigen, dass die Mittelschicht in Deutschland in einem viel stärkeren Maße geschrumpft ist als dies in vielen anderen europäischen Ländern der Fall ist.

Die Mittelschicht, die als Gradmesser für die Stabilität des sozialen Zusammenhalts gilt, ist ins Zentrum der öffentlichen Debatte gerückt. Einigkeit in der Bewertung der ökonomischen und sozialen Entwicklung der Mittelschicht herrscht jedoch keineswegs. Während einige Studien eine schrumpfende Mittelschicht konstatieren, betonen andere deren Stabilität. Judith Niehues geht der Frage nach, ob sich tatsächlich eine zunehmende Verunsicherung der Gesellschaft, insbesondere der Mittelschicht, beobachten lässt. Der Beitrag analysiert auf der Grundlage repräsentativer Haushaltsbefragungsdaten des Sozio-ökonomischen Panels die Entwicklung des bundesrepublikanischen Schichtgefüges seit der Wiedervereinigung und untersucht die Häufigkeit sozialer Auf- und Abstiege.

Integrierte Migrantinnen und Migranten sind eine kulturelle, gesellschaftliche Bereicherung und nicht zuletzt ein ökonomischer Zugewinn. Haci-Halil Uslucan nimmt in seinem Beitrag die Sozialbeziehungen zwischen Deutschen und (türkeistämmigen) Zuwanderern in den Blick und beschreibt, wie durch Kommunikation und Kooperation kulturelle Distanz abgebaut und Integration gefördert werden kann. Vermehrte Kontaktmöglichkeiten zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen führen allerdings nicht automatisch zu einem besseren gegenseitigen Verständnis. Dies zeigen Diskriminierungserfahrungen, die die Integrationsbemühungen von Migrantinnen und Migranten beeinträchtigen.

Die deutsche Gesellschaft wird in einigen Zeitdiagnosen als individualisierte und pluralisierte Konsum- und Erlebnisgesellschaft beschrieben. Das einzelne Individuum muss sein Handeln vor dem Hintergrund einer noch nie da gewesenen Vielfalt an Konsum-, Erlebnis- und Sinnangeboten orientieren. Dabei reflektieren Menschen verstärkt das eigene Wohlbefinden. Die eigene Zufriedenheit wird zum Gradmesser für Lebenserfolg und soziales Handeln. Vor dem Hintergrund dieser Gesellschaftsdiagnose stellt der Beitrag von Sylvia Kämpfer und Michael Mutz Forschungsbefunde zur Entwicklung der Lebenszufriedenheit in Deutschland vor und analysiert, von welchen Einflussfaktoren das Wohlbefinden der Menschen abhängt.

Im Auftrag der Baden-Württemberg Stiftung wurden politische Einstellungen und alltagsweltliche Orientierungen in vierzehn baden-württembergischen Kommunen untersucht. Rolf Frankenberger und Daniel Buhr präsentieren die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung. Die Studie bestätigt die These einer Pluralisierung politischer Lebenswelten. Insgesamt finden sich sieben Lebenswelten, die sich in drei unterschiedliche Gruppen (politikferne, delegative und partizipatorische Lebenswelten) zusammenfassen lassen. Diese Lebenswelten unterscheiden sich nicht nur im Verständnis von Demokratie und Politik, sondern auch hinsichtlich der Partizipationsniveaus und -formen. Wünschenswert erscheint eine Differenzierung und Erweiterung von Beteiligungsangeboten in der repräsentativen Demokratie angesichts der unterschiedlichen Präferenzen der verschiedenen politischen Lebenswelten.

Anders als in früheren Jahrzehnten konstatiert die aktuelle Shell Jugendstudie einen Anstieg des politischen Interesses. War in den vergangenen Jahren ein Trend zu einer immer geringeren Politisierung Jugendlicher zu verzeichnen, hat sich nunmehr ein Trendwechsel vollzogen. Im Gegensatz zu Vorgängergenerationen kommt das soziale, ökologische und politische Engagement Jugendlicher unaufgeregt und ohne sozialrevolutionäres Pathos daher. Die Jugend findet sich – so Thomas Gensicke, Mitautor der Shell Jugendstudie 2015 – im Einklang mit dem Gemeinwesen und dessen (alten und neuen) Werten. Thomas Gensicke erörtert die verschiedenen Facetten des gewachsenen Interesses von Jugendlichen für Politik sowie die verschiedenen Formen jugendlichen Engagements.

Das im 19. Jahrhundert entstandene deutsche Parteiensystem weist in seinen Grundstrukturen bis heute eine bemerkenswerte Kontinuität auf. Die für die Struktur des Parteienwettbewerbs maßgeblichen Konfliktlinien bildeten sich bereits im Kaiserreich heraus. Die religiöse Konfliktachse markierte die Trennlinie zwischen Katholiken, Protestanten und laizistischen Bevölkerungsgruppen. Zeitgleich entwickelte sich ein parteipolitischer Gegensatz zwischen der Arbeiterschaft und den Selbstständigen sowie Landwirten. Diese Konfliktstrukturen bildeten die Basis für das Entstehen langfristig stabiler politischer Milieus. Die Kontinuität der Milieu- und Parteienwettbewerbsstruktur darf jedoch nicht mit Stagnation gleichgesetzt werden. Die Gesellschaft und das politische System unterliegen langfristigen Wandlungsprozessen, die das Wählerverhalten und das Parteiensystem beeinflussen. Oscar W. Gabriel beleuchtet den langfristigen Wandel der gesellschaftlichen Grundlagen des Parteienwettbewerbs in Deutschland.

Obwohl externe Politikberatung durchaus einen Mehrwert zu bieten hat, setzen Parteien aus strukturellen Gründen eher auf interne Beratungsverfahren, die im Wahlkampf, in der Programmformulierung und in organisatorischen Fragen zum Tragen kommen. Udo Zolleis erörtert die verschiedenen Ressourcen und Akteure dieses internen Beratungsprozesses. Interne Politikberatung erfolgt zunächst über die aktiven Mitglieder, deren Meinungen und Stimmungen hohe Durchschlagskraft besitzen. Eine weitere Ressource der Politikberatung ist der Parteiapparat, auf dessen Expertise die Abgeordneten angewiesen sind. Einen gewichtigen Stellenwert nimmt auch die Ministerialbürokratie ein, die sich um Fragen der Implementation des politischen Willens kümmert. Externe Politikberatung wird in der Regel dann herangezogen, wenn aufgrund von Reformstaus Sach- und Fachwissen und Impulse notwendig werden, um politische Lösungen effizient und rational zu gestalten.

Politische Repräsentation ist nicht nur eine institutionelle, sondern auch eine soziale Frage. Deshalb erweist sich die Entgegensetzung von direkter und repräsentativer Demokratie in modernen Gesellschaften als ein Schattengefecht – so Oliver Eberl und David Salomon. Entscheidender ist vielmehr die Frage, welche sozialen Gruppen in den Organen der Repräsentation vertreten werden und in welchem Zusammenhang Partikularinteressen und Gemeinwohl stehen. Postdemokratische Diagnosen konstatieren eine in formaler Hinsicht intakte repräsentative Demokratie, in der wichtige Entscheidungen jedoch von Eliten getroffen werden. Entgegen dem Anspruch repräsentativer Organe, divergierende gesellschaftliche Interessen angemessen zu vertreten, zeigt sich in postdemokratischen Systemen der Trend hin zu einer neuen sozialen Ungleichheit. Mehr noch: Soziale Ungleichheit übersetzt sich in politische Ungleichheit.

Die Heterogenität postmoderner Gesellschaften stellt Regierungen vor die Problematik, auf gesellschaftliche und soziale Veränderungen mit Blick auf die Zukunft des Gemeinwesens angemessen reagieren zu müssen. Dabei bedienen sie sich u.a. auch Studien der Markt- und Meinungsforschung. Durch die allumfassende Digitalisierung hat die Sammlung von Daten jedoch an Brisanz gewonnen: Eine um sich greifende Überwachung stellt Prinzipien der Selbstbestimmung und der Souveränität in Frage. Welche Mechanismen sind hier am Werk? Unter Rückgriff auf Konzepte der Bio-Politik, Ansätze der Beschreibung der Bevölkerung, auf Regierungsbegriffe und Regierungstechniken sowie der systematischen Analyse der Macht bei Michel Foucault zeichnet Rolf Frankenberger nach, dass sozialwissenschaftliche und ökonomische Gesellschaftsanalysen zentrale Elemente der Bio-Politik und Bausteine einer spezifischen Verknüpfung von Macht und Wissen darstellen, die sich zu einer „Regierung des Lebensstils“ (Rolf Frankenberger) verdichtet.

Allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen aufschlussreiche Informationen und Einsichten vermitteln, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Dank gebührt auch dem Schwabenverlag und der Druckvorstufe für die stets gute und effiziente Zusammenarbeit.



Siegfried Frech
 

 


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