Zeitschrift

Der Rhein

 

 

Das politische Buch


Inhaltsverzeichnis    


Heribert Rech 50 Jahre alt

Der Vorsitzende des Kuratoriums der Landeszentrale für politische Bildung ist am 25. April 50 Jahre alt geworden. Heribert Rech hat 1996 den Vorsitz übernommen und setzt sich engagiert für die Landeszentrale ein. Das ist bei seinen vielen Aufgaben nicht selbstverständlich. Er ist rechtspolitischer Sprecher der CDU, kümmert sich für seine Fraktion um die Polizei im ganzen Land und leitet schließlich auch noch den Untersuchungsausschuss, der die Subventionen an den Bauernverband überprüft. Der Abgeordnete weiß um die Bedeutung der politischen Bildung, hat auch Sensibilität für die Überparteilichkeit der Aufgabenstellung und legt großen Wert auf persönlichen Kontakt mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Landeszentrale. So war er schon wiederholt im Haus auf der Alb und hat auch schon die Außenstellen besucht.

Alle Kolleginnen und Kollegen schätzen den Einsatz von Heribert Rech für die Landeszentrale, gratulieren von Herzen zum runden Geburtstag und wünschen ihm privat wie politisch eine gute Zukunft. Natürlich hoffen wir, dass er noch lange Freude hat an der Aufgabe des Kuratoriumsvorsitzenden. 

Siegfried Schiele


Ein Standardwerk zur Geschichte der Sowjetunion

Manfred Hildermeier

Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates.

C.H. Beck München 1998

1206 S., 73 Tabellen, 8 Diagramme,

1 Karte, DM 98,-

Im Jahre 1955 erschien von Georg von Rauch die "Geschichte des bolschewistischen Russland" als erste deutschsprachige Darstellung; 1970 wurde dieser Titel in "Geschichte der Sowjetunion" geändert, Zeugnis einer Versachlichung der Forschungsdiskussion und ihrer narrativen Darstellung.

Seit einigen Jahren sind nun kleinere Gesamtdarstellungen erschienen, die zwar zu dieser Zeit verdienstvoll waren, aber heute den Anforderungen nicht mehr genügen. Andererseits wurden in der letzten Zeit Publikationen präsentiert, die wichtigen punktuellen Ereignissen in epischer Breite gewidmet waren.

Manfred Hildermeier, Ordentlicher Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Göttingen, ist schon seit vielen Jahren ein ausgewiesener Kenner der Materie. Bekannt wurde er durch sein Buch "Die Russische Revolution 1905-1920" (2. Aufl. 1995), das mittlerweile zu einem Standardwerk geworden ist. Seine neue Monographie ist nicht nur dem Umfang nach ein Monumentalwerk, sondern ebenso im Blick auf seine hohe Qualität. Wer sich über die neueste internationale wissenschaftliche Diskussion unterrichten möchte, findet hier alle relevanten Informationen.

Die Einleitung des Bandes ist ein souveräner Überblick über die Geschichte Russlands seit Peter I. (1672-1725) bis zum Ende der Sowjetunion, auf den die gesamte narrative Darstellung aufbaut.

Der immense Stoff wird in die folgenden größeren Abschnitte überzeugend gegliedert: (A) Ursachen und Voraussetzungen (1861-Oktober 1917), (B) Der Aufbau des Sowjetstaates (Oktober 1917-1928), (C) Mobilisierungsdiktatur (1929-1941), (D) Der Sieg und sein Preis (1941-1953) und (E) Entwickelter Sozialismus (1953-1996).

Die erste Periode umfasst von den Oktoberereignissen 1917 bis zur Wende 1928 vor allem den Umbau in Politik und Wirtschaft in den sechs Monaten nach dem Staatsstreich 1917, die Verteidigung dieser Errungenschaften im blutigen Bürgerkrieg und teilweise deren Zurücknahme während der "Neuen Ökonomischen Politik" (NƒP). Ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr im April 1917 setzte Lenin den Übergang des Staates zum Sozialismus auf die Tagesordnung. Die Räteregierung veränderte grundlegend die Strukturen in Staat und Wirtschaft. Alle "Überbleibsel der Vergangenheit" wurden beseitigt - die schwache Demokratie wie auch Banken, Unternehmen, Adel und Bürgertum. Der Bürgerkrieg zementierte diese heftige soziale und politische Umwälzung der Geschichte und dehnte sie auf die eroberten Gebiete aus. Der Kampf der alten Elite um ihren Einfluss zerstörte letzten Endes die Reste der überkommenen Ordnung und zwang zur Mobilisierung aller Ressourcen. Neue Staatsorgane und die Rote Armee schufen völlig neue Katalysatoren des sozialen Aufstiegs. Staat, Wirtschaftsordnung und Gesellschaft waren am Ende des Bürgerkrieges entstanden und veränderten das Denken und die geistige Welt tiefgreifend. Zugleich bezeichnete dies die Partei mehr und mehr als Sozialismus. Trotz der Erleichterungen der NEP blieb die politische Verfassung in dieser Zeit unverändert. Die Räte blieben von der wirklichen politischen Macht ausgesperrt. Obwohl nach dem Tode Lenins in den Reihen der Partei heftige Fehden ausbrachen, blieb das Monopol der Bolschewiki unangetastet.

Die Opposition (vor allem Trotzki und seine Anhänger) wurde unterdrückt und die Meinungsfreiheit beseitigt. Schon während der NSP bahnte sich der Wandel in der Partei an, durch den Stalin und seine Kader an die Schaltstellen der Macht gelangten. Die Spannungen zwischen Trotzki und Stalin wurden durch die ambivalente Haltung Lenins gefördert. Die Überzeugung von der grundsätzlichen Überlegenheit des Sozialismus berührte die neue Wirtschaftspolitik kaum und bestimmte die Struktur des neuen und neuartigen Staates.

Die "Mobilisierungsdiktatur" umfasste den Zeitabschnitt der sowjetischen Zwischenkriegszeit, der bis zum deutschen Überfall am 22. Juni 1941 dauerte; Kennzeichen waren Etablierung und Konsolidierung der Stalinschen Herrschaftsordnung mit dem Merkmal einer "Revolution von oben". Umfang und Gewalt prägten die Säuberungen, die vor niemandem, auch den ,Altbolschewiken`, haltmachten. Stalin und seine Genossen wollten mit weiteren Repressionen der ökonomischen Rückständigkeit des Landes Herr werden. Willkürliche Maßnahmen des Staates stützten die zentrale Planbürokratie und -wirtschaft mit dem Ziel, innerhalb von zehn Jahren den "großen Sprung nach vorn" zu schaffen und den kapitalistischen Westen nicht nur einzuholen, sondern auch zu überholen.

Mit dem deutschen Überfall begann die Kriegs- und Nachkriegszeit (1941-1953), zwei getrennte Perioden in einer Einheit. Konsequenzen des Überfalls waren die Evakuierung von Produktionsanlagen und die Aktivierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft; sie waren in den Dienst der Vaterlandsverteidigung gestellt worden und brachten verhältnismäßig viele politische Freiheiten (vor allem der Russischen Orthodoxen Kirche). Eine weitere Folge bestand allerdings auch darin, dass die verwaltungstechnische Zentralisierung und die Herausbildung einer entsprechenden "Nomenklatura" in großem Umfang gefördert wurden. Die Verschmelzung von Sozialismus und Patriotismus wie auch der Sieg über Hitler-Deutschland machten Stalins Diktatur unangreifbar, zumal die Hegemonialstellung der Sowjetunion sich auf die innere Situation stabilisierend auswirkte. Angst und Schrecken, die auf dem krankhaften Misstrauen Stalins ihre Grundlage hatten, verbreiteten sich über das ganze Land und lähmten es.

Der vorletzte Zeitabschnitt (1953-1985) wird von einer Zäsur deutlich geprägt: Bis zum Sturz Chrustschows wurde wieder "von oben" versucht, die Vergangenheit, vor allem den Stalinismus, aufzuarbeiten; das "Tauwetter" beschränkte sich darauf, die persönliche Diktatur zu geißeln, die in dieser Form nicht mehr durchgesetzt werden konnte, und die Kultur in neue Bahnen zu lenken. Die Dezentralisierung der industriellen Entscheidungsmechanismen stifte aber mehr Verwirrung denn wirtschaftlichen Gewinn. Die Verjüngung und Selbstreinigung der Partei führte jedoch nicht dazu, die gesamte politische Elite wirklich auszutauschen, da sie als alte Vertraute und Schützlinge Stalins im Politbüro und in anderen entscheidenden Gremien den Ton angaben. Der Diktatur Stalins trauerten sie allerdings nicht nach. Eine wie imme geartete Reformbereitschaft machte vor einer wesentlichen Korrektur der Machtverhältnisse halt, da dies besonders die eigenen politischen Bedürfnisse in Gefahr gebracht hätte.

Die Ablösung Chrustschows zog weit weniger Veränderungen nach sich als die innenpolitischen Zäsuren der zwanziger Jahre. Diese neue "Nomenklatura" besetzte sämtliche Führungspositionen gleichermaßen. Was im bürgerlichen Staat getrennt war, sollte unter der Führung der Partei wieder dadurch verbunden werden, dass die Eliten in der Realität vernetzt wurden. Es zeigte sich daher, dass Herrschaft anders ausgeübt und der Staat anders organisiert wurde als in den zwanziger Jahren oder unter Stalin. Bis 1985 wurde zunehmend sichtbar, dass ein Funktionsmangel immer häufiger durch informelle Arrangements beigelegt wurde, so dass Protektion und Korruption ("Vetternwirtschaft") einen innovativen Wettbewerb erstickten.

Nach 1985, dem Amtsantritt Gorbatschows, sollte sich zeigen, dass im Blick auf die alte Ordnung die Diagnose richtig war; dass die Krankheit jedoch im System lag, sollte erst die Therapie zeigen. Gorbatschows Maßnahmen zielten jedoch zuerst auf die "Effektivnost" (Effektivität) des alten Systems ab. Dabei ging er davon aus, es genüge die "Glasnost" (Transparenz heißt in diesem Zusammenhang, dass man über etwas sprechen kann, mehr nicht), um den Druck innerhalb des Landes zu mildern. Die Kombination beider Konzepte hin zur "Perestrojka" (Umbau) entwickelte schon bald eine Eigendynamik, die er nicht mehr steuern konnte und die letztlich zum Putsch und zum Untergang der Sowjetunion führte. Diese Entwicklung, auch wenn sie im Interesse Deutschlands lag (Vereinigung 1989), sorgte dafür, dass seine heimlichen Widersacher - wie Boris Jelzin - an die Macht kamen. Mithin stellte sich für den Beobachter im westlichen Ausland immer die Frage, ob denn Russland wirklich schon auf dem Weg zur Demokratie sei. Manfred Hildermeier stellt die Frage in die andere Richtung, nämlich, warum der Sowjetsozialismus gescheitert sei.

Überblickt man dieses Monumentalwerk, stellt man sich unwillkürlich die Frage, ob das Ziel erreicht wurde, das sich der Autor gesetzt hatte. Einige Fragen könnten artikuliert werden, die weder alle Mängel zur Sprache bringen können noch diejenigen Kollegen unterstützen sollen, die diese Monographie vollständig mit dem Argument ablehnen, der Verfasser habe sich mit dieser Darstellung hoffnungslos übernommen -- ihnen sei gesagt, dass maßlose Kritik einer solchen Leistung nicht gerecht werden kann und zugleich fordert, es besser zu machen. Eine Thematik sei jedoch genannt: Das Verhältnis von Staat und Russischer Orthodoxer Kirche beziehungsweise von Russischer Orthodoxer Kirche und atheistischem Staat. Die Darstellung dessen ist verhältnismäßig knapp, über die römisch-katholische Kirche, die protestantischen Kirchen und die Griechisch-Katholische Kirche (Unierte) findet man keine eigene Darstellung; gerade dies wäre wichtig gewesen, da ihnen gegenüber eine andere Religionspolitik verfolgt wurde. Ebenso entsteht der (ungute) Eindruck, dass die Sowjetunion nur aus Russland bestand - stellvertretend seien die Ukraine, Weißruthenien und die Baltenstaaten genannt.

Wenn auch verständlich, muss doch bedauert werden, dass dem Band keine Literaturliste beigefügt wurde. Dies wird durch einen umfangreichen Anhang (über 100 S.) aufgewogen. Überhaupt liegt ein Band vor, der didaktisch hervorragend gestaltet ist und dessen Preis mehr als nur angemessen ist. Er gehört in jede gute Schulbibliothek und Handbibliothek vieler interessierter Lehrer und Schüler. Kurzum: Ein Standardwerk! Wolfgang Heller


Lokale Agenda 21

Winfried Hermann/Eva Proschek/Richard Reschl (Hrsg.)

Lokale Agenda 21

Anstöße zur Zukunftsfähigkeit

Verlag W. Kohlhammer Stuttgart 2000

248 Seiten, DM 39,80

Ökonomische, ökologische und soziale Zielsetzungen gleichrangig miteinander zu verbinden, ist der Auftrag der Konferenz der Vereinten Nationen, die im Juni 1992 in Rio de Janeiro zum Thema Umwelt und Entwicklung stattgefunden hat. In Artikel 28 der dort verabschiedeten Charta werden insbesondere die Städte und Gemeinden in die Pflicht genommen. Sie sollen unter Einbeziehung ihrer Bürgerinnen und Bürger ihren Beitrag dazu leisten, diese Ziele in die Realität umzusetzen.

Deutschland ist in Hinblick auf diese Lokale Agenda besonders gefordert, verfügen doch hierzulande die Kommunen über einen besonders großen Handlungs- und Entscheidungsspielraum. Zudem sind die Menschen hier durchaus partizipationserfahren. Und in der Tat ist das Thema Lokale Agenda 21 kräftig aufgegriffen worden - allerdings mit einem starken West-Ost-Gefälle. Zudem wächst die Aufgeschlossenheit mit der Gemeindegröße.

Hilfreich für einen solchen lokalen Prozess ist das soeben erschienene Buch von Winfried Hermann, Eva Proschek und Richard Reschl, eines engagierten Bundestagsabgeordneten der GRÜNEN, einer Bereichsleiterin der Volkshochschule Stuttgart und eines Professors der Fachhochschule für Öffentliche Verwaltung Ludwigsburg, der zugleich als erfahrener Planer bei der Kommunalentwicklung Baden-Württemberg (KE) arbeitet. Man merkt dem Buch an, dass wir es hier mit durchaus erfahrenen Praktikern zu tun haben, eine gewisse nüchterne Betrachtungsweise zeichnet dieses Buch aus, am deutlichsten in den Beiträgen von Richard Reschl. Ganz bewusst versteht sich dieses Buch - so der Untertitel - als "Handreichung", das gemeinsame Vorwort spricht von einem "Buch zur lokalen Agenda vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen." Das trifft es.

"Handreichung" - das bedeutet: praxisorientiert. Es soll ein hilfreiches Buch sein vor allem für diejenigen, die sich an Agenda-Prozessen beteiligen (möchten). So zeigt das Buch nicht nur Möglichkeiten auf, sondern weist immer auch auf Gefahren und Fehlerquellen hin. Die Beiträge geben einen Überblick über das, was (schon) läuft, sie wollen zum Vergleich anregen, und zwar in hilfreicher Absicht. So listet das Buch die unterschiedlichen Möglichkeiten für die Initiativen zu diesem Prozess auf, wägt das Für und Wider ab, verweist auf Chancen und Gefahren. Unüberhörbar die Warnung: "Agenda-Prozesse lassen sich nicht erzwingen, weder mit guter Vorbereitung noch mit gutem Willen. Das Umfeld muss vorbereitet sein, und die «Zeit muss reif sein«." (S. 18) Es macht Vorschläge zum Thema Gruppengröße und -zusammensetzung, Arbeitsweise, Moderation, anfallende Kosten, aber auch, wie mögliche Themen aussehen könnten. Breiten Raum nehmen die Beispiele aus den Kommunen ein, "Visionen, Handlungsfelder und Projekte" werden vorgeführt, "Reflexionen" angestellt, beispielsweise zum Verhältnis Bürgerbeteiligung - Gemeinderat. Das Buch enthält einen Dokumentenanhang, selbstverständlich ein Literaturverzeichnis und "Kontaktadressen".

Fasst man die Einsichten, die das Buch liefert, zusammen und ergänzt sie durch eigene Erfahrungen, dann lässt sich Folgendes zur Lokalen Agenda 21 anmerken: Erfolgreich kann ein solcher Prozess vor allem dann sein, wenn die Rathaus-Spitze erkennen lässt, dass sie voll dahinter steht. Von der Gemeinde selbst sollten auch alle Haushaltungen angeschrieben werden; Gruppen, die sich mit dem Agenda-Prozess schwertun (z. B. die heimische Wirtschaft), bedürfen der eigenen Ansprache. Spontan sich bildende Agenda-Gruppen bergen demgegenüber die Gefahr in sich, dass sich "die üblichen Verdächtigen" zusammenfinden, die die Problem schon x-mal miteinander diskutiert haben. Neu Hinzukommende - gerade auch junge Menschen - werden dadurch nur abgeschreckt. Wichtig ist eine exakte Aufgabenstellung für die sich bildenden Gruppen und ein genauer Zeitplan, bis zu dem Ergebnisse vorzulegen sind. Vielfach war der Agenda-Prozess bislang viel zu stark input-orientiert. Es muss aber dabei auch etwas herauskommen, und zwar mehr als besagte "Tübinger Stocherstange" (eine Dauerwurst aus heimischer ökologischer Produktion, die in Form und Namen an die Stocherstangen der Tübinger Neckarboote erinnert). Die output-Orientierung ist also von zentraler Bedeutung, sonst schreckt man viele Menschen ab, die mit ihrer Zeit auch etwas anderes anzufangen wissen als stundenlang zu diskutieren. Denn auch Zeit ist eine individuell nicht erneuerbare Ressource, mit der es pfleglich umzugehen gilt. 
Hans-Georg Wehling


Zukunftskommission

"Gesellschaft 2000"

Solidarität und Selbstverantwortung.

Von der Risikogesellschaft zur Chancengesellschaft.

Bericht und Empfehlungen der Zukunftskommission Gesellschaft 2000 der Landesregierung Baden-Württemberg.

Hrsg. Von der Zukunftskommission Gesellschaft 2000

Geschäftsstelle Staatsministerium Baden-Württemberg

Richard-Wagner-Straße 15

70184 Stuttgart.

Zu beziehen über den Herausgeber oder über Internet:

http://www.baden-wuerttemberg.de/zukunftskommission

Ungeachtet der Frage, ob das neue Jahr tatsächlich ein neues Jahrhundert und Jahrtausend bedeutet, hat der Jahreswechsel 1999/2000 bereits im Vorfeld eine Fülle von Standortbestimmungen und Zukunftsvisionen unter dem Titel "2000" hervorgebracht. Auch die Landesregierung wollte nicht hintan stehen und hat eine Zukunftskommission einberufen. Das Ergebnis der Beratungen liegt nun vor. Unter dem Titel "Solidarität und Selbstverantwortung" wird der Weg von der Risikogesellschaft zur Chancengesellschaft untersucht.

Um es gleich vorweg zu sagen: Die Darstellung entspricht voll und ganz dem Thema. Zum einen liegen Bericht und Empfehlungen nebst informativem Anhang auf 220 Seiten im DIN-A4-Format gedruckt vor. Zum andern gibt es die Möglichkeit, den gesamten Bericht über Internet abzurufen und außerdem zusätzliche Hintergrundinformationen über die Entstehung des Berichtes sowie über den Abschlusskongress zum Thema zu bekommen (inklusive Anmeldung und Hinweise auf Anreisemöglichkeiten. Inzwischen ist der Termin des Kongresses allerdings vorbei.). Zu "Vorschlägen und Anregungen" wird im Anschluss an das Geleitwort des Ministerpräsidenten aufgerufen.

Der vorliegende Bericht ist das Ergebnis mehrjähriger Arbeit. Die Leitfrage eines Kongresses im Frühjahr 1995, zu dem die Landesregierung nach Karlsruhe eingeladen hatte, lautete "Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?" Ziel dieses Kongresses war, nach Wegen für eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung zu suchen. Die Zukunftskommission Gesellschaft 2000, die im März 1997 von der Landesregierung eingesetzt wurde, knüpfte bei ihrer Arbeit an diese Frage an. An drei exemplarischen Themenfeldern wurde untersucht, wie der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gestärkt werden kann. Dabei ging es weniger um eine Zukunftsbeschreibung als um die Entwicklung konkreter Empfehlungen und Handlungsvorschläge. Unter Vorsitz von Professor Wolfgang Frühwald haben in der Kommission Persönlichkeiten aus den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft mitgearbeitet: Wissenschaftler, Künstler, Politiker, Vertreter von Kirchen und Verbänden, Publizisten, junge und alte Menschen. Sie werden in Kurzbiographien vorgestellt.

Die Empfehlungen sind nicht nur an die Landesregierung gerichtet, sondern an Wirtschaft, Verbände, verschiedene gesellschaftliche Gruppen und auch an die einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Ziel war, eine breite öffentliche Diskussion über gesellschaftspolitische Zukunftsfragen anzuregen sowie zu einer Stärkung der Selbständigkeit der einzelnen Bürgerinnen und Bürger wie auch der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen beizutragen. Die Landesregierung will sich mit den Empfehlungen sehr genau auseinandersetzen, die Umsetzbarkeit prüfen und in zwei bis drei Jahren der Kommission berichten, wie sie deren Ideen und Empfehlungen umgesetzt hat.

Der Bericht gibt zunächst "einleitende Hinweise auf übergreifende Entwicklungen, von denen man annehmen kann, dass sie innerhalb der nächsten 25 Jahre die Entwicklung unserer Gesellschaft auf eine grundlegende Weise bestimmen werden". Es wird ausdrücklich betont, dass die Hinweise auf übergreifende Entwicklungen nur skizzenhaft sein können. Ansonsten beziehen sich die Analysen des Berichtes im Wesentlichen auf die Situation in Baden-Württemberg. Im Rahmen der "Übergreifenden Entwicklungen" werden Veränderungen im System sozialer Sicherung, vorhersehbare Veränderungen im System der Arbeitswelt, Globalisierung, Digitalisierung sowie demographische Veränderungen und Migration beleuchtet.

Im Themenfeld "Wissen und Kultur als Faktor der Stabilisierung und der Erneuerung des gesellschaftlichen Zusammenhalts" befürwortet die Kommission eine Verkürzung der schulischen Erstausbildung durch stärkere Konzentration auf die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen. Für das notwendige lebenslange Lernen müssen in der Arbeitswelt und im Sozialsystem neue Strukturen entwickelt werden. Die Kommission schlägt z.B. vor, Prüfungsämter einzurichten, in denen Menschen Wissen, das sie außerhalb der Schule erworben haben, zertifizieren lassen können. Auch soll eine breite Diskussion über eine Neubestimmung über das Verhältnis zwischen Arbeitszeit, Sozial-, Familien- und Freizeit geführt werden. Die Kultur als wichtiges Bindeglied zwischen Teilen der Gesellschaft darf auch in Zeiten knapper Kassen nicht geschmälert werden.

In der Auseinandersetzung mit der "Lage junger Menschen und mit dem Verhältnis der Generationen" tritt die Kommission dafür ein, kulturelle Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung zu begreifen. In diesem Zusammenhang empfiehlt sie, in Baden-Württemberg ein Modell für einen islamischen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen zu entwickeln. Auch neue Formen der Konfliktaustragung (etwa durch Mediation) und der politischen Mitbestimmung (z.B. durch Bürgerforen) sollen erprobt werden.

Im Rahmen ihrer Beschäftigung mit dem Thema "Gesellschaftliches Engagement und Wege der Mitverantwortung" hat die Kommission festgestellt, dass die Bereitschaft, sich für Mitmenschen einzusetzen, immer noch sehr groß ist. Da viele Menschen jedoch wegen der Flexibilitätsanforderungen der Arbeitswelt Probleme haben, sich längerfristig im Ehrenamt zu binden, spricht sie sich für neue Formen projektorientierten Engagements aus. Um die Gleichwertigkeit freiwilliger Arbeit mit bezahlter Erwerbsarbeit zu betonen, verwendet die Kommission die Bezeichnung "Bürgerarbeit" als Oberbegriff. Sie schlägt vor, "Börsen für Bürgerarbeit" einzurichten und Angebote wie Freiwilliges Soziales und Ökologisches Jahr auch für andere Altersgruppen zu öffnen.

Die Zahlen zur Bürgerarbeit im Anhang des Berichtes sind leider nicht ganz vollständig und können somit keinen Überblick über das tatsächliche ehrenamtliche Engagement geben. Sehr aufschlussreich ist dagegen ein von der Akademie für Technikfolgenabschätzung abgefasstes Bürgergutachten "Ehrenamt und gesellschaftliches Engagement", das auch einen Einblick in die Erwartungen der engagierten Bürgerinnen und Bürger gibt. Auch die Ergebnisse einer von Arbeitsgruppe III durchgeführten Anhörung über die "Hemmnisse, die Menschen vom Engagement abhalten und Bürgerarbeit erschweren" sind sehr interessant. Wenn man dort z.B. liest, dass der Einsatz von Medien in der Jugendarbeit Probleme bereitet, weil es schwierig ist, eine Gebührenbefreiung für Radio und Fernsehen zu bekommen, wird man von allen Visionen sehr schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Auch die Überlegungen zur Gewährung von Versicherungsschutz für ehrenamtliche Arbeit zeigen das Problem realistisch.

Dennoch ist zu hoffen, dass die Visionen umgesetzt werden können. Schön wäre es, wenn der von Ministerpräsident Erwin Teufel an den Schluss des Geleitwortes gestellte Satz von Max Frisch "Demokratie heißt, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen", wieder häufiger Gültigkeit hätte. 
Angelika Hauser-Hauswirth


Juden in Creglingen

Hartwig Behr, Horst F. Rupp

Vom Leben und Sterben. Juden in Creglingen.

Königshausen & Neumann, Würzburg.

1999. 278 Seiten, 56 Abbildungen, 48 DM.


Gerhard Naser

Lebenswege Creglinger Juden - Das Pogrom von 1933.

Der schwierige Umgang mit der Vergangenheit.

Eppe, Bergatreute. 1999. 320 Seiten,

190 Abbildungen, 34,80 DM.

Creglingen, 25. März 1933, 8 Uhr: ein Samstag wie viele andere, zu diesem Zeitpunkt zumindest. An Alltagsdinge wird man sich später erinnern: an die Arbeit im Friseursalon oder den Schulbesuch. Die jüdischen Creglinger halten Schabbath und versammeln sich gerade in der Synagoge zum Gebet. Nur wenig später, zwischen 8 und 9 Uhr, erreicht eine Lastwagenkolonne der SA-Standarte 122, der sich SA-Männer aus Mergentheim und Weikersheim angeschlossen haben, den Ort. Ihr Ziel ist es, die Häuser jüdischer Bürger nach Waffen zu durchsuchen, wie es ein Erlass des württembergischen Innenministeriums am 17. März verfügt hatte. Standartenführer Fritz Klein leitet die Aktion. In Creglingen wird er durch den NSDAP-Ortsgruppenleiter Karl Stahl unterstützt, der die SA nach erfolglosen Hausdurchsuchungen zur Synagoge führt. Das Gebet wird gewaltsam unterbrochen, 16 Männer werden nach Beschimpfungen und Drohungen anhand einer Namensliste überprüft, ins Rathaus abgeführt, dann im Notarzimmer einzeln verhört, beschimpft, geknebelt, auf brutalste Weise verprügelt und durch Abschneiden der Haare gedemütigt. Zwei Männer sterben nach diesen Misshandlungen: Hermann Stern am selben Tag, Arnold Rosenfeld eine Woche später. Waffen werden nicht gefunden.

Dieser "Creglinger Samstag" kann, wie die beiden neu erschienenen Bücher von Gerhard Naser bzw. Hartwig Behr und Horst F. Rupp zeigen, zum Ausgangs- und Bezugspunkt aller weiteren Fragen über jüdisches Leben in Creglingen genommen werden. Wie auf einer Mind map lassen sich von diesem Zentrum aus verschiedenste Linien und Verästelungen verfolgen: etwa die Reaktionen Creglinger damals und heute, die weiteren Lebensläufe der jüdischen Bürger, der Umgang mit den Verantwortlichen und Tätern, der politische und gesellschaftliche Kontext, die "Vor"- und "Nach"-Geschichte im weiteren Sinne oder die Frage nach der Bedeutung dieses Ereignisses aus heutiger Sicht, um nur einige Beispiele zu nennen.

Die Autoren haben anhand dieser imaginären Mind map eine je eigene Auswahl und Schwerpunktsetzung vorgenommen, die im Folgenden vorgestellt werden soll. Eine Besonderheit ist, dass hier nicht nur ein wissenschaftliches Forschungsinteresse allein, sondern auch biographische Beweggründe und eine jeweils "unterschiedliche Betroffenheit" diesen Veröffentlichungen zugrunde liegen. Horst F. Rupp, Professor für Evangelische Theologie in Würzburg, ist beispielsweise der Enkel des NSDAP-Ortsgruppenführers Stahl, Gerhard Naser, Verwaltungsjurist in Stuttgart, ist gebürtiger Creglinger. Daraus ergibt sich das Problem des persönlichen Umgangs mit Lokal- und Familiengeschichte, das auch von den Autoren reflektiert wird.

Vom zentralen Ereignis, dem 25. März, ausgehend, legen Rupp und Behr ihren Schwerpunkt auf die Darstellung der Geschichte der jüdischen Gemeinde Creglingens von 1532 bis 1939. Die Chronologie der Epochen wird durch zwei Porträts ergänzt. Am Beispiel des jüdischen Lehrers und Vorsängers Josef Preßburger und der christlichen Dienstmagd Anna Schall wird jüdisches Leben bzw. christlich-jüdisches Neben- und Miteinander in Creglingen veranschaulicht. Ein abschließendes Kapitel befasst sich mit den Tätern des Pogroms. In gelungener gegenseitiger Ergänzung der Autoren entsteht ein homogener Gedankengang, der durch Quellen wie Fotos und Zeitungsausschnitten sowie durch Statistiken veranschaulicht und gestützt wird. Der Akzent liegt, wie schon der maßgebliche Anteil des Regionalhistorikers und Gymnasiallehrers Hartwig Behr an diesem Buch erkennen lässt, auf einer fundierten historischen Betrachtungsweise. Vorteilhaft für den Leser ist der angehängte Dokumentarteil, der relevante Quellen zugänglich macht. Der "unvermittelte" Orginalton der amtlichen Untersuchung des Pogroms sowie die Dokumentationsfotos der körperlichen Misshandlungen entfalten dabei eine Aussagekraft, hinter der die narrativ angelegten Quellendokumentationen beider Bücher fast zurückstehen.

Die notwendig distanzierte Wissenschaftlichkeit schließt indes die persönliche Stellungnahme nicht aus. Wie auch bei Naser ist die "ethische Luft" (Th. Mann) zu spüren, die alles umgibt. Horst Rupp stellt sich etwa der schwierigen Aufgabe, über seinen Großvater, den NSDAP-Ortsgruppenleiter Karl Stahl, zu schreiben und sein Handeln zu bewerten. Behr und Rupp geht es, wie es in ihrem Vorwort deutlich wird, um die "besondere ethisch-moralischen Verpflichtung", die den "Nachkommen der Täter" zukommt. Ihre Intention deutet auch die Einbandgestaltung an: Zwischen dem Porträt des festtäglich gekleideten Lehrers Preßburger, der zentralen Figur jüdischen Gemeindelebens, und dem Dokumentarfoto des beim Pogrom totgeprügelten Hermann Stern entsteht die Spannung, aus der das Buch entstanden ist und die im klassisch-kargen Titel "Vom Leben und Sterben. Juden in Creglingen" - eher "un-historisch" - über das Lokale hinaus ins Sinnbildliche erhoben wird.

Schwierigkeiten mit dem Titel lässt auch das zweite, von Gerhard Naser herausgegebenen Buch "Lebenswege Creglinger Juden - Das Pogrom von 1933: Der schwierige Umgang mit der Vergangenheit" vermuten. Dem disparaten "Dreiteiler" entsprechend wurde hier die Vielstimmigkeit eines Sammelbands angezielt. Das Titelfoto, jüdische Kinder unter blühenden Creglinger Bäumen, verweist schon auf die dominierende Perspektive des biographischen Rückblicks und lässt etwas von der entschiedenen lokalen "Verwurzelung" dieses Buches erahnen. Wie die Galerie der Grußworte erkennen lässt, besteht zudem ein deutlicher Anspruch auf öffentliche Würdigung. Wieder steht der Samstags-Pogrom im Zentrum; die Fragerichtung zielt aber stärker auf die "Nach"-Geschichte, d.h. auf die Zeit von 1933 bis 1999. Über das Kernereignis hinaus werden Biographien jüdischer Creglinger sowie thematische Beiträge ergänzt, die allgemein etwa den christlichen Antijudaismus und jüdisches Leben im Mittelalter darstellen oder über den "Nutzen des Vergessens" reflektieren. Gerhard Naser ist Herausgeber und Hauptautor zugleich. Als "Historiker im Nebenberuf" schreibt er nicht nur über, sondern mit jüdischen Creglingern und wird dabei von weiteren Autoren, vor allem Universitätshistorikern, unterstützt. Engagiert hat Naser die Spuren jüdischer Exilanten in Nord- und Südamerika, Israel und der Schweiz verfolgt, Interviews geführt und die Oral history der ehemaligen Creglinger transkribiert. Eigenständige Themenblöcke bilden die juristische Aufarbeitung des Pogroms und die lokalen Auseinandersetzungen um ein angemessenes Erinnern und Gedenken, denn auch in den Verdrängungsbemühungen ist Creglingen, wie Utz Jeggle nachweist, exemplarisch. Der Reiz dieses Sammelbands liegt in der Vielfalt seiner Inhalte und Darstellungsformen. Er ist nicht nur wissenschaftliche Aufsatzsammlung, sondern auch Familienalbum, Stadtchronik und Dokumentation eines Denk- und Diskussionsprozesses. Letztlich will Nasers Buch Vorurteile abbauen, die Frage nach der Schuld stellen und - wie der Fettdruck des Glossars anzeigt - die "Verantwortung aller für alle" einklagen. Dass in Creglingen das nationalsozialistische Deutschland schon in den ersten hundert Tagen seit der "Machtergreifung" seine brutale und menschenvernichtende Seite zeigte und der "Anfang vom Ende" jüdischen Lebens schon fünf Jahre vor der "Reichspogromnacht" begann, fordert zu Einordnungsversuchen, Deutungen und Schlussfolgerungen heraus. Den Anfang machte 1933 bereits Lion Feuchtwanger mit seinem Roman "Die Geschwister Oppermann", als Historiker legten Paul Sauer und Saul Friedländer bereits Untersuchungen vor, die jetzt durch die Neuerscheinungen ergänzt werden. Die "Neuinteressierten" mögen den Zugang zu dieser Problematik vielleicht eher über Nasers Sammelband, die Historiker und Liebhaber wissenschaftlicher Prosa über Behrs Monographie finden, ein annähernd vollständiger Blick auf jüdische Geschichte in Creglingen erschließt sich jedoch nur durch beide Bücher. Die von Hansjörg Ebert und Stefan Müller festgestellte "Kontinuität des Antisemitismus" im Creglinger Raum lässt indessen auf eine neue Privatinitiative hoffen, die sich eingehender mit dem Antisemitismus in Württemberg befasst.

Alfred Hagemann


Der Kosovo-Konflikt

Matthias Rüb

Kosovo

Ursachen und Folgen eines Krieges in Europa

Deutscher Taschenbuch Verlag München, 1999. 192 S. DM 16,90

Stärke und zugleich Schwäche dieses Buches erklären sich aus der journalistischen Herangehensweise an das Thema. Matthias Rüb ist Balkan-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und den Lesern dieses Blattes durch seine (Hintergrund-)Berichte wohl bekannt. Rüb ist ein brillanter und engagierter Schreiber, aber die im Buchklappentext angekündigte Analyse von Ursachen und Folgen des Kosovo-Konfliktes bleibt überwiegend im Ansatz stecken. Verantwortlich dafür sind der Mangel an analytischer Distanz sowie eine gewisse proalbanische Voreingenommenheit. Die ist spürbar etwa beim bevorzugten Gebrauch albanischer Ortsnamen. Rübs Schlussfolgerung, "die Einzeltaten albanischer Gewalttäter" dürfen nicht "mit den Massentötungen ganzer kosovo-albanischer Familien" durch serbische Polizisten, Soldaten und Freiwillige gleichgesetzt werden (S. 173), ist allerdings eine befremdliche Verharmlosung des UCK-Terrors. Diese Verharmlosung ist genau so unangemessen wie es im März 1999 Scharpings Enthüllung angeblicher serbischer Konzentrationslager oder Fischers Ausschwitzvergleiche waren.

So sollte wenigstens zur Kenntnis genommen werden, dass sich die serbische Gesellschaft in der Kosovo-Frage auf einen Konsens stützt: Kosovo ist Serbien. Nur schwer ignorieren lässt sich außerdem, dass die UCK durch ihre Angriffe auf Einrichtungen des Staates und ihre Morde an serbischen Polizisten und Zivilisten das brutale Vorgehen jugoslawischer Sicherheitskräfte provoziert hat, um die NATO (erfolgreich) zu einem "Luftkrieg für die Menschenrechte" zu animieren. Dass die Regierung der Bundesrepublik Jugoslawien ihre Kosovo-Operationen im Einklang mit der herrschenden internationalen Rechtsauffassung als innerstaatliche Terroristenbekämpfung legitimiert sah, rechtfertigt natürlich nicht die unverhältnismäßige Härte ihres Vorgehens.

Rübs Mangel an analytischer Distanz zeigt sich auch, wenn er in der euphorischen Sprache eines Kriegsberichterstatters den Einmarsch der KFOR-Truppen in das Kosovo beschreibt oder in seiner Argumentation manchmal wie ein Doppelgänger des zu Fernsehberühmtheit gekommenen NATO-Sprechers Jamie Shea wirkt statt sich kritisch und differenziert mit den NATO-Positionen auseinanderzusetzen. Beispiel dafür ist ein Resümee, der Vertragsentwurf von Rambouillet sei "ein faires Kompromissangebot an Albaner und Serben" gewesen. Zweifel an diesem Urteil sind angebracht, denn der Vertragsentwurf hätte eine weitgehende Einschränkung der Souveränitätsrechte Jugoslawiens im Kosovo, die Gefahr eines späteren Referendums über die Unabhängigkeit der Provinz und völlige Bewegungsfreiheit der NATO-Truppen in ganz Jugoslawien bedeutet.

In seinem Abriss über die historischen Voraussetzungen des Konfliktes tritt der Autor sogleich in die Falle mitteleuropäisch-ethnozentrischer Weltansicht, wenn er darüber belehrt, dass aus der Geschichte für die Lösung gegenwärtiger Krisen gar nichts folge (S. 22). Denn heutige Krisen müssten nach heutigen Maßstäben friedlich und auf der Grundlage von Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und universalen Menschenrechten gelöst werden. Mag sein, aber wer sich nicht ernsthaft auf die uns möglicherweise fremd erscheinenden Sichtweisen der am Konflikt Beteiligten einlässt, wird die Ereignisse nicht verstehen. Mehr noch: Er wird außer illusionären Vorstellungen nichts Wesentliches zur Lösung des Konfliktes beitragen können. Was das Kosovo angeht, befindet sich die westliche Staatengemeinschaft samt ihren UNMIK- und KFOR-Repräsentanten augenblicklich genau in dieser Lage.

Die historische Darstellung ist, auch wenn sie nur ein Abriss sein will, an einigen Stellen zu sehr verkürzt. So gehört zur Geschichte des Verhältnisses von Serben und Albanern im Kosovo z.B. auch das expansive demographische Verhalten der Albaner, das auf die Serben ebenso bedrohlich wirken musste wie die stetige Abwanderung und die aktive Verdrängung von Kosovo-Serben speziell in den siebziger und achtziger Jahren. Dass die Diskriminierungserlebnisse von Kosovo-Serben in den Jahren der Tito-Herrschaft aus Gründen der ethnischen Balance ("Brüderlichkeit und Einheit") tabuisiert war, macht die stetig zunehmende Explosivität der Verhältnisse im Kosovo mit erklärbar und wird damit zur unmittelbaren Vorgeschichte des Krieges von 1999. Dieser Aspekt wird aber in nur zwei Sätzen abgehandelt.

Milosevic spielt eine zentrale Rolle im Drama um das Kosovo, und umgekehrt das Kosovo in der Karriere von Milosevic. Die schon häufig beschriebene Szene in Kosovo Polje am 24. April 1987, in der Milosevic seinen legendären Satz "Niemand soll es wagen, Euch zu schlagen!" sagt, ist die entscheidende Station seines Weges an die Spitze Serbiens und Jugoslawiens. Milosevic, so die These des Autors, hatte hellsichtig erkannt, dass die Renaissance des serbischen Nationalismus die Macht der kommunistischen Partei gefährden könnte, wenn die Partei die Sache der nationalen Bewegung nicht zu ihrer eigenen machen würde.

Die nächsten Kapitel schildern das Kosovo der neunziger Jahre, die politische Pattsituation nach der de-facto-Beseitigung der Autonomie, die Etablierung einer

albanischen Parallelgesellschaft, die serbische Repression, die Strategie des gewaltfreien Widerstandes der Demokratischen Liga des Kosovo unter seinem Vorsitzenden Ibrahim Rugova sowie ihr allmähliches Scheitern in der zweiten Hälfte der Dekade. Danach folgen das Entstehen der UCK und die eskalierende Kampfhandlungen mit den serbischen Sicherheitskräften im Jahre 1998. Der Beschreibung des Scheiterns der Friedensverhandlungen von Rambouillet im Februar und März 1999 hätte eine etwas strukturierende Darstellung von Inhalt und neuralgischen Punkten des Vertragsentwurfes gutgetan.

Mit der Verwendung des durch den Millionenmord des kambodschanischen Pol-Pot-Regimes unmissverständlich besetzten Begriffes der killing fields gerät der Autor allerdings auf Abwege.

Die Wirklichkeit war gewiss schlimm genug, als dass sie es nötig hätte, durch solche Vergleiche übertrieben zu werden.

Die Stärke des Buches liegt in seinen ausdrucksstarken Schilderungen, die sich beim Lesen wie von selbst zu visualisieren scheinen. Sie liegt in spannend abgefassten Reportageelementen, mit denen der Autor nahezu in allen Kapiteln den Verlauf der Ereignisse illustriert oder teilweise exemplarisch beschreibt. Entstanden ist eine flüssig lesbare und trotz allem lesenswerte Einführung in den Kosovo-Konflikt und seine Vorgeschichte. Rübs Buch animiert gerade wegen Einseitigkeiten zu einem vertieften Studium von Ursachen und Folgen dieses Krieges.

Berthold Löffler


Kriegsgefangene in Stuttgart

Elmar Blessing

Die Kriegsgefangenen in Stuttgart

Das städtische Kriegsgefangenenlager in der Ulmer Straße und die "Katastrophe von Gaisburg"

Herausgegeben von MUSE-O, Museumsverein Stuttgart-Ost e. V.

Verlag im Ziegelhaus Ulrich Gohl,

Stuttgart 1999

(Hefte zum Stuttgarter Osten; Band 4)

ISBN 3-925440-23-2

104 Seiten, 40, teils farbige Abbildungen, DM 24,00

Tausende von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern waren gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in Stuttgart eingesetzt: in der Rüstungsindustrie und anderen Firmen, bei den städtischen Eigenbetrieben, beim Luftschutzbau oder bei Aufräumungsarbeiten nach Luftangriffen. Schon 1940 hatte die Stadt für die Unterbringung von Kriegsgefangenen ein Lager in Gaisburg errichten lassen. Die Lage in einem Industriegebiet sollte die Fremden von der einheimischen Bevölkerung fern halten; und sie war mit verantwortlich für die so genannte "Katastrophe von Gaisburg" am 15. April 1943, als bei einem Bombenangriff vierhundert französische und russische Gefangene getötet wurden.

Mit Unterstützung des Stadtarchivs Stuttgart und aufbauend auf früheren Studien von Christian Streit und Ulrich Herbert hat Elmar Blessing zahlreiche, bisher nicht bekannte Quellen und Erinnerungsstücke ausgewertet. Interviews mit ehemaligen französischen Kriegsgefangenen und Stuttgarter Zeitzeugen ergänzen die Darstellung. Der Autor hat mit seinen Forschungen und Kontakten einen Beitrag dazu geleistet, die das Schicksal der Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkrieges historisch aufzuarbeiten. Die Texte und Abbildungen des Bandes geben Einblick in den Lageralltag, die Arbeitseinsätze und die Verpflegungssätze oder die durchaus differenzierten sozialen Beziehungen. Weil Blessing einzelne Menschen zu Wort kommen lässt, trägt er dazu bei, den Opfern der NS-Diktatur ihre Würde wiederzugeben.

Elmar Blessings Arbeit ist eine wichtige Veröffentlichung zur Lokal- und Zeitgeschichte, die auch den Stuttgarter Lokalpolitikern zu empfehlen ist, zumal eine vergleichbare Studie über die Zwangsarbeiter in Stuttgart noch aussteht. Für den Unterricht bietet der Band viele anschauliche Materialien; darüber hinaus kann er Anregungen geben für ähnliche Projekte in der eigenen Region. 

Otto Bauschert


Sehnsucht nach dem alten Dorf

Hans Dieter Eheim

Leben unter Scheunentoren

Begegnungen mit einem Dorf im Hohenlohischen

Hohenloher Druck- und Verlagshaus

Gerabronn und Crailsheim, 1998

96 Seiten, 8 Illustrationen von Wilfried Richter

DM 19,80

Was macht der Stadtmensch vom Lande, wenn er auf die sechzig zu geht und an Weihnachten einmal nicht wie gewohnt Berlin verlässt, um die Tage zwischen den Jahren in seinem Heimatdorf bei Öhringen zu verbringen? Er erinnert sich - an die Tage seiner Kindheit und Jugend in Windischenbach. Bei geschlossenen Augen tauchen Bilder vergangener Tage in seinem Kopf auf. Und da er als Wissenschaftler das Schreiben gewohnt ist, hält er seine Gedanken fest. So könnte Hans Dieter Eheims Buch entstanden sein, in dem er Geschichten aus "seinem" Dorf erzählt.

Vor unseren Augen entsteht ein Bild des alten Dorfes, das geprägt ist vom Rhythmus des Jahresablaufs - nicht nur in der Natur, sondern im gesamten Alltag. Wir erhalten Einblick in eine versunkene Welt - mit schiefen Fachwerkhäusern, lehmigen Straßen und Wegen, Pferde- und Kuhgespannen, Groß- und Kleinbauern, Knechten und Mägden, dem Schmied, Korbmacher und Schuster, dem Dorfladen sowie einer Kommunikationskultur zwischen Dorfbüttel, Pferdemarkt und winterlicher "Vorsetz" (dem regelmäßigen Treffen reihum). Es ist eine in sich geschlossene Welt, in der auch die Einsamen und die Armen im Unterdorf ihren fest gefügten Platz haben. Und alles strahlt im milden Licht der Erinnerung.

Eheims Buch lebt vom Gegensatz zwischen Früher und Heute, aber auch vom Kontrast zwischen Nähe und Stille des Landlebens auf der einen sowie der Kälte und Hektik der Großstadt auf der anderen Seite. Die Sehnsucht nach der Geborgenheit des alten Dorfes klingt immer wieder an. Eheims Blick zurück ist ein Buch für Menschen, die sich in Erinnerung rufen wollen, wie es damals war. Und es ist eine lohnende Lektüre, um sich eine unbekannte Welt erst zu erschließen - als Kulturwissenschaftler oder als Städter von heute.

Wer sich daran stört, dass Eheim die Verhältnisse von damals meist mit dem Weichzeichner skizziert, dem sei als sinnvolle Ergänzung ein Band von Gottlob Haag empfohlen: Und manchmal krähte der Wetterhahn (jetzt in zweiter Auflage erschienen im Verlag Eppe, Bergatreute). Hans Dieter Eheims Vorzug ist es, dass er mit der Distanz des Betrachters schreibt, der die Verhältnisse zwar kennt, ihren Zwängen aber entflohen ist. Der ältere Gottlob Haag ist zeit seines Lebens im Hohenlohischen geblieben; er schildert die soziale Wirklichkeit des Dorfes aus der Perspektive von unten. In der Hochsprache schreiben beide Autoren, doch bei Gottlob Haag finden sich viele wörtliche Zitate in der Mundart. 

Otto Bauschert


"Internationale Beziehungen in der politischen Bildung"

Im Laufe weniger Jahre hat sich das internationale Staatensystem rasant verändert. Während in Westeuropa eine neue Friedensordnung entstand, ist die Lage in Osteuropa instabil. In vielen Regionen ist der Frieden durch ungelöste Konflikte gefährdet. Dieses neue Koordinatensystem internationaler Politik stellt auch die politische Bildung vor neue Herausforderungen. Im neuesten Band der didaktischen Reihe wird in einem ersten Schritt der Versuch einer fachwissenschaftlichen Bilanzierung gewagt. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie denn Internationale Politik für den Unterricht greifbar werden und wie zu den prägenden Elementen internationaler politischer Prozesse vorgestoßen werden kann.

Das Buch Siegfried Frech/Wolfgang Hesse/Thomas Schinkel (Hrsg.): "Internationale Beziehungen in der politischen Bildung" kann kostenlos bei der Landeszentrale bestellt werden.


Schriftsteller lesen über 10 Jahre deutsche Einheit

Bei den "Literaturtagen Sachsen-Anhalt" 1993 haben sie sich kennen gelernt - die Schriftsteller Christoph Kuhn (Ost) und Kai Engelke (West). Sie treffen sich im Frühstücksraum einer kleinen Pension, kommen ins Gespräch, entdecken Gemeinsamkeiten, besuchen zusammen eine Ausstellung der "Beat-Generation" im berühmten Dessauer Bauhaus. Sie fragen, antworten, reden, erzählen - bis auf den heutigen Tag. Als "Tandem" lesen sie vor Schülern aber auch vor anderen Literatur-Interessierten. Ihr Briefwechsel ist inzwischen als Buch erschienen (Kai Engelke, Christoph Kuhn: "Wie gut, dass bei uns alles anders ist!", Klaus Bielefeld Verlag Friedland 1999, 19,80 DM). Es dokumentiert die Bemühungen zweier Schriftsteller, das vermeintlich Fremde zwischen "Ossi" und "Wessi" zu ergründen, die so unterschiedlichen Einflüsse, denen sie ausgesetzt waren zu benennen und die Gegenwart schreibend zu bewältigen. Ein Stück Zeitgeschichte aus persönlicher Sicht im Dialog - ernst und amüsant. Christoph Kuhn und Kai Engelke stehen interessierten Gruppen gerne für Lesungen und Gespräche zur Verfügung.


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