Zeitschrift 

Die Osterweiterung der EU


 

Heft 1/ 2004

Hrsg: LpB

 



 

Inhaltsverzeichnis

  Europäische Spuren in Baden-Württemberg
 

Hans Furler - ein Europäer der ersten Stunde

  Zum 100. Geburtstag von Hans Furler
  Claudia Philipp

 

Wenn vom 10. bis 13. Juni 2004 die Bürger in der Europäischen Union zum sechsten Male dazu aufgerufen sind, das Europäische Parlament zu wählen, dann hat dazu wesentlich ein Mann beigetragen, der wenige Tage zuvor seinen 100. Geburtstag hätte feiern können. Am 5. Juni 2004 wäre Prof. Dr. Hans Furler 100 Jahre alt geworden. Obwohl er für lange Zeit der erste und einzige deutsche Präsident des Europäischen Parlaments war, ist sein Name heute nur noch wenigen bekannt. Dabei gehört er zu den "Europäern der ersten Stunde" und hat entscheidende Weichen gestellt.

     
   
  HANS FURLER – EIN EUROPÄER DER ERSTEN STUNDE. 

Fotonachweis: Europäisches Parlament

 

WERDEGANG

Hans Furler wurde am 5. Juni 1904 im badischen Lahr geboren. Dort besuchte er das humanistische Gymnasium und begann nach seinem Abitur im Jahre 1922 das Jurastudium. Er studierte in Freiburg, Berlin und Heidelberg, wo er nach insgesamt sieben Semestern 1925 das erste Staatsexamen mit "sehr gut" bestand. Während seiner Referendarzeit schrieb er seine Dissertation über das Thema: "Das polizeiliche Notrecht und die Entschädigungspflicht des Staates". Die Arbeit wurde vom Heidelberger Verfassungsrechtler Gerhard Anschütz betreut, der allen Grund hatte, auf seinen Schüler stolz zu sein. Im Februar 1928 wurde Furler von der juristischen Fakultät der Universität Heidelberg der Doktortitel mit dem Prädikat "summa cum laude" zuerkannt. Die Promotionsurkunde wurde vom damaligen Dekan Gustav Radbruch unterschrieben, der von 1920-24 SPD-Reichstagsabgeordneter und zeitweise Reichsjustizminister war. Trotz der Arbeit an der Promotion legte Furler auch das zweite Staatsexamens im Dezember 1928 mit der Note "sehr gut" ab. Er war gerade 24 Jahre alt, als er seine Berufstätigkeit als Rechtsanwalt in Pforzheim aufnahm. 

Schon im Sommersemester 1930 erhielt er an der Technischen Hochschule Karlsruhe einen Lehrauftrag für Patentrecht, wo er sich im März 1933 mit der Schrift: "Besitz, Verkehrsgeltung, Verwirkung im Wettbewerbsrecht" habilitierte. Hans Furlers weiterer Werdegang wurde wesentlich von der Zeit des Zweiten Weltkrieges geprägt. Spätestens nach dessen Ende erkannte er die Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft für die europäische Einigung. Er trat 1952 der CDU bei, wurde kurz nach seinem Eintritt Vorsitzender des "Wirtschaftspolitischen Beirats der Badischen CDU" und zog nur ein Jahr später in den zweiten Deutschen Bundestag ein.

Am 1. Juli 1955 wurde Furler eines von 18 deutschen Mitgliedern der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Er wurde vom Deutschen Bundestag als Nachfolger von Heinrich von Brentano gewählt, den Konrad Adenauer am 6. Juni 1955 zum Außenminister ernannt hatte. Furler wurde auch Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und in der Versammlung der Westeuropäischen Union.

Er sah für die seit dem 23. Juli 1952 arbeitende EGKS eine doppelte Aufgabe. Einmal galt es, im Rahmen des Vertrages die unmittelbar gestellten Ziele zu erreichen, also vor allem den gemeinschaftlichen Markt für Kohle und Stahl zu verwirklichen. Zum anderen aber sollte sie die Grundlage für eine umfassendere europäische Wirtschaftsgemeinschaft sein, nachdem der Plan einer politischen Gemeinschaft mit der Ablehnung des Vertrags über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) durch die französische Nationalversammlung im August 1954 gescheitert war. Im Juni 1956 schrieb Furler in der "Politischen Meinung": "Die Montan-Union blieb Stückwerk. Sie tut aber in dem begrenzten Rahmen das ihr Mögliche, und sie wird eine entscheidende Rolle spielen, wenn die sechs Staaten sich entschließen, das Projekt des gemeinsamen Allgemeinen Marktes zu realisieren."

 

PRÄSIDENT DER GEMEINSAMEN VERSAMMLUNG

Furler muss die damals 78 Abgeordneten der Gemeinsamen Versammlung der EGKS nachhaltig beeindruckt haben. "Das Parlament" charakterisierte ihn am 21. März 1962 wie folgt: "Er brachte für sein europäisches Amt Eigenschaften mit, die ein so junges, in rascher Entwicklung stehendes parlamentarisches Organ benötigt: viel Geduld und Ausdauer, zähes Festhalten an den für richtig erkannten Positionen bei stets sachlichem Auftreten." Nach nur 17-monatiger Mitgliedschaft in der Versammlung wurde er am 27. November 1956 in Straßburg per Akklamation zu ihrem neuen Präsidenten gewählt. Er wurde Nachfolger des italienischen Christdemokraten Giuseppe Pella, der von 1954 bis 1956 Präsident war. Am 5. November 1957 wurde Hans Furler im Amt bestätigt, das er bis zum Ende der Gemeinsamen Versammlung der EGKS am 28. Februar 1958 innehatte. 

In der Rede nach seiner ersten Wahl zum Präsidenten erklärte Furler: "Durch dieses Parlament soll eine neue, Gewalt und Unrecht ausschließende Ordnung gewahrt und der Geist der Gemeinschaft in einem Raume gestärkt werden, der auch schon durch tragische und nicht verschuldete Konflikte zerstört war. Dieses erste und einzige Parlament, dessen Befugnisse über das Gebiet eines nationalen Staates hinausreichen, erwies sich als Hort europäischen Denkens und als Anreger großer Entwicklungen. Aus seiner Mitte kamen die Gedanken, die in den Begriffen ‚Allgemeiner gemeinsamer Markt' und ‚Euratom' umschlossen sind." Zugleich äußerte er sich auch zum Ziel der Gemeinschaften: "Montanunion, Euratom und Allgemeiner gemeinsamer Markt erfüllen ihren Sinn nur dann, wenn durch sie die sozialen Probleme einer großzügigeren und besseren Lösung zugeführt werden können. Nur dadurch können sichere Grundlagen für eine freiheitliche und die Würde des Menschen achtende politische Ordnung geschaffen werden."

Als Präsident suchte Furler Wege, um die Gemeinsame Versammlung zu einer funktionierenden politischen Institution auszugestalten. Nach dem Vertrag konnte sich die Versammlung ihre Geschäftsordnung selbst geben. Furler baute die in der Geschäftsordnung vorgesehenen Verfahren aus, um besonders das Generalsekretariat zu einem arbeitsfähigen und wirkungsvollen Instrument zu machen. Die Gemeinsame Versammlung wurde durch periodische Plenarsitzungen und häufige Ausschusssitzungen fast zu einem permanenten Parlament, obwohl der EGKS-Vertrag nur von "jährlich einer Sitzungsperiode" sprach. Die Hohe Behörde bereitete nun zusammen mit der Gemeinsamen Versammlung ihre Entscheidungen vor. Es entwickelten sich wirksame Arbeitsmethoden und ein neuer Stil für einen eigenständigen Parlamentarismus, der den Einfluss der Gemeinsamen Versammlung stärkte.

Im Juni 1957 zog Furler vor der Gemeinsamen Versammlung eine erste Bilanz der parlamentarischen Arbeiten, die er als Präsident mitgeprägt hatte: "Trotz der verhältnismäßig engen Bestimmungen des Vertrages über ihre Kontrollbefugnisse hat die Gemeinsame Versammlung in der weiteren Entwicklung eine umfassendere parlamentarische Arbeit aufgebaut. Dies ist wohl die bemerkenswerteste Feststellung, die wir über die Tätigkeit der Gemeinsamen Versammlung in den vergangenen Jahren treffen können. Aus den Verhandlungen zwischen der Versammlung, ihren Ausschüssen und der Hohen Behörde und aus dem ständig fortschreitenden Ausbau der Fraktionen hat sich eine enge Zusammenarbeit zwischen den Institutionen der Gemeinschaft entwickelt, durch die es unserer Versammlung möglich war, ihre Wünsche und Bestrebungen im Rahmen der Zielsetzung des Vertrages immer genau und wirksam zum Ausdruck zu bringen (...). Die Versammlung hat sich (...) nicht auf die Präzisierung einzelner Punkte oder auf eine Kritik beschränkt. Vielmehr entwickelten ihre Arbeiten die Umrisse einer allgemeinen Konzeption. Dabei muss ich betonen, dass hier die Mitwirkung der Fraktionen besonders deutlich geworden ist. Die von der Versammlung entwickelte allgemeine Konzeption kann sicherlich die Grundlage einer wirkungsvollen europäischen Politik bilden, in der die verschiedenen in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden Meinungen und politischen Kräfte zusammengefasst werden."

Genau diese von Furler beschriebene Entwicklung eines europäischen Parlamentarismus in der EGKS-Versammlung erweckte Misstrauen nicht nur bei den Regierungen, sondern auch in den nationalen Parlamenten. Wie konnte es angehen, dass Parlamentarier eigenständige Ideen in einem Parlament entwickeln konnten, dem doch von den Mitgliedstaaten keinerlei Entscheidungsbefugnisse übertragen worden waren? 

 

FÜR EIN EINHEITLICHES EUROPÄISCHES PARLAMENT

Seit der Konferenz der EGKS-Außenminister in Messina am 1./2. Juni 1955 wurde über die weitere europäische Integration beraten. Am 26. Juni 1956 begannen in Brüssel die Verhandlungen über eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und eine Europäische Atomgemeinschaft (EAG). Natürlich wurde dabei auch über deren institutionelle Ausgestaltung beraten. Bereits in der Euratom-Debatte des französischen Parlaments im Sommer 1956 war die Idee eines neuen und eigenen parlamentarischen Organs für die EAG aufgekommen. In den Vertragsverhandlungen wurde dann von Vertretern Frankreichs der Vorschlag gemacht, jeder der beiden neuen Gemeinschaften eine eigene parlamentarische Vertretung zu geben. Es hätte also drei parlamentarische Versammlungen gegeben, für jede der europäischen Gemeinschaften eine. Die Konsequenzen lagen auf der Hand: die parlamentarische Kontrolle der drei Gemeinschaften wäre so zersplittert worden, dass sie nicht wirksam hätte wahrgenommen werden können. Um den parlamentarischen Einfluss noch weiter zurückzudrängen, sollten die Versammlungen in veränderbarer Zusammensetzung und spezialisierten Sektionen arbeiten. Wie hätten Themen, die so eng zusammenhingen wie Kohle und Stahl, Gemeinsamer Markt und Euratom in verschiedenen Parlamenten mit unterschiedlicher Zusammensetzung sinnvoll behandelt werden können?

Schon in seiner Antrittsrede nach der Wahl zum Präsidenten der Gemeinsamen Versammlung am 27. November 1956 hatte sich Furler dafür ausgesprochen, der EGKS-Versammlung die parlamentarischen Funktionen zu übertragen, die in einer erweiterten oder neu entstehenden wirtschaftlichen Gemeinschaft erforderlich waren. Wörtlich erklärte er: "Es kann für Euratom, für die Montan-Union und für den Allgemeinen gemeinsamen Markt nur eine einheitliche parlamentarische Institution geben, die aus unserer Gemeinsamen Versammlung hervorgehen muss." Im Gegensatz dazu hatten die Außenminister Ende Januar 1957 beschlossen, zur Kontrolle der neuen Gemeinschaften Euratom und Gemeinsamer Markt auch neue parlamentarische Gremien zu schaffen. Dieser Beschluss war allerdings noch nicht endgültig und bindend. Furler erfuhr davon während seines Antrittsbesuchs als Präsident der Gemeinsamen Versammlung bei der italienischen Regierung in Rom.

Noch während seines Besuchs in Rom nahm Furler deshalb Kontakt mit der Beratenden Versammlung des Europarats und der Versammlung der Westeuropäischen Union auf, denen er ebenso angehörte. Die drei Präsidenten der bestehenden parlamentarischen Organe trafen sich vor der Ministerrats-Konferenz am 4. Februar 1957 in Brüssel. Sie wurden dabei von einigen Mitgliedern ihrer jeweiligen Versammlung begleitet. Furler setzte zunächst im Präsidium der EGKS-Versammlung und anschließend bei den beiden anderen Präsidenten den Gedanken durch, die Gemeinsame Versammlung in die neue parlamentarische Institution mit ihrer materiellen Substanz und mit allen politischen Rechten und Befugnissen überzuführen. Dies musste unmittelbar mit der Entstehung der neuen Versammlung geschehen, damit in keinem Augenblick mehrere parlamentarische Institutionen nebeneinander bestünden. Mit dieser Fusion sollte ein einheitliches Parlament geschaffen werden, das alle Aufgaben aus den verschiedenen Verträgen wahrnehmen konnte.

Diese gemeinsame Position trug Furler als Leiter der Delegation der Präsidenten dem Ministerrat am Abend des gleichen Tages vor. Seine Argumente waren so überzeugend, dass ihnen die Minister am 5. Februar folgten. Dabei engagierte sich besonders der deutsche Außenminister Heinrich von Brentano. Als Ergebnis der Regierungsverhandlungen wurde zusammen mit dem EWG- und dem EAG-Vertrag am 25. März 1957 ein besonderes Abkommen über zwei gemeinsame Organe für die drei Europäischen Gemeinschaften abgeschlossen, in denen für alle drei Gemeinschaften nur eine parlamentarischen Institution und ein Gerichtshof vorgesehen war.

Furler hat bei der Entstehung des einheitlichen Europäischen Parlaments eine wichtige Rolle gespielt. Ohne die Initiative zum Treffen der Präsidenten am Vortag des Außenministertreffens in Brüssel wären vermutlich getrennte Versammlungen entstanden. Ob ihre Zusammenführung später, zum Beispiel mit dem Fusionsvertrag von 1965, möglich gewesen wäre, ist fraglich.

 

PRÄSIDENT DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS

In der konstituierenden Sitzung der nunmehr 142 Abgeordnete umfassenden "Versammlung", die für die drei Gemeinschaften zuständig war, wurde Robert Schumann am 19. März 1958 gegen den Willen der Außenminister, die sich öffentlich für ihren früheren italienischen Kollegen Martino ausgesprochen hatten, per Akklamation zum ersten Präsidenten gewählt. Furler wurde einer der Vizepräsidenten und kümmerte sich besonders um Rechts- und Verwaltungsfragen. Auf seinen Antrag beschloss die Versammlung bereits wenige Tage später am 21. März 1958, dass die Bezeichnung "Versammlung" im Deutschen durch "Europäisches Parlament" und im Niederländischen durch "Europees Parlement" ersetzt werden sollte. Am 30. März 1962 wurde diese Bezeichnung dann für alle vier damals bestehenden Amtssprachen beschlossen. Offiziell wurde "Europäisches Parlament" allerdings erst durch die am 1. Juli 1987 in Kraft getretene Einheitliche Europäische Akte in die Verträge aufgenommen. 

Für die im März 1960 anstehende Wahl des Parlamentspräsidenten schlug die christlich-demokratische Fraktion Furler als Nachfolger Schumanns vor, der gesundheitlich angeschlagen war. Erstmals in der Geschichte des Europäischen Parlaments gab es einen Gegenkandidaten, denn die liberale Fraktion hatte Gaetano Martino vorgeschlagen, den die Außenminister gerne bereits als ersten Präsidenten gesehen hätten.

Hans Furler wurde als erster Deutscher am 28. März 1960 zum Präsidenten des Europäischen Parlaments gewählt. Er setzte sich mit 68 Stimmen gegen seinen Konkurrenten durch, der 44 Stimmen erhielt. Da die erforderliche Mehrheit nur 57 Stimmen betrug, wurde Furler im ersten Wahlgang zum neuen Präsidenten gewählt. Seine Wiederwahl am 7. März 1961 geschah durch Zuruf. Teile seiner Antrittsrede sind heute noch aktuell: "Es ist sicherlich die größte Aufgabe dieses Hauses, die nationalen Regierungen zu drängen, vorwärts zu gehen und unbeirrt auf unsere letzten großen Ziele hinzuschreiten. Es liegt aber auch in unserer Verpflichtung, zu verhindern, dass überwuchernde Bürokratien entstehen, die hart und undurchsichtig sind und ein technokratisches Eigenleben führen. Die Verwaltungen dürfen den Bürgern nicht fremd werden. Der europäische Alltag darf die politischen Ideen nicht erdrücken. Die notwendigen Institutionen haben ständig unseren großen Zielen zu dienen. Der Herzschlag der Politik muss unüberhörbar bleiben."

Als Präsident war Furler für die Gestaltung der Plenardebatten verantwortlich. Er hatte einerseits sicherzustellen, dass sich jeder Abgeordnete frei äußern konnte, musste aber andererseits darauf achten, dass sich die Debatten nicht endlos hinzogen. Jede Wortmeldung musste entgegengenommen, ihre zeitliche Reihenfolge konnte nicht verändert werden. Eine Redezeitbegrenzung war damals nur durch besondere Plenarbeschlüsse möglich. Redner unterschiedlicher Parteien aus verschiedenen Ländern waren zu berücksichtigen. Bei der Festlegung der Tagungswochen des Europäischen Parlaments war darauf zu achten, dass sie sich nicht mit denen der nationalen Parlamente zeitlich überschnitten. Es gelang Furler, das Europäische Parlament unabhängig von seinen rechtlichen Befugnissen zu einem aktiven und beachteten Organ der europäischen Integration zu machen.

 

     
   
  DAS BILD ZEIGT HANS FURLER MIT ROBERT SCHUMANN, SEINEM VORGÄNGER IM AMT DES PARLAMENTSPRÄSIDENTEN.

Fotonachweis: Europäisches Parlament

 

 

FURLER UND DIE DIREKTWAHL DES PARLAMENTS

In einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk im Januar 1957 wurde Furler, zu diesem Zeitpunkt Präsident der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), nach seiner Ansicht zu einer möglichen Direktwahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments befragt. Seine Antwort: "Ich glaube, eine Direktwahl, also die Entstehung wirklicher europäischer Parlamentarier, setzt größere Zuständigkeiten voraus, die sich mit der Zeit entwickeln (...). Wenn wir soweit sind - wir wollen Geduld haben und Schritt für Schritt vorwärtsgehen -, dann, glaube ich, kommen wir um die Direktwahl nicht herum. Sie wird alsdann notwendig und richtig sein."

Die Priorität "Erst Befugnisse, dann Direktwahl" änderte Furler allerdings wenige Jahre später. Als Präsident des Europäischen Parlaments setzte er sich schon 1960 mit folgenden Überlegungen für die Direktwahl ein: "Unmittelbare Wahlen schaffen ein Band zwischen den Wahlberechtigten aller Mitgliedstaaten und dem Parlament, verankern dessen Tätigkeit im Bewusstsein der Wähler und vermitteln den Abgeordneten die im demokratischen Gefüge höchste Legitimation. Das Parlament bekommt damit ein größeres politisches Gewicht und eine verstärkte politische Antriebskraft, die es besser als bisher in die Lage versetzt, dem Prozess der europäischen Integration zu dienen." Mit der veränderten Priorität sollte er Recht behalten. Allerdings erlebte er die Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments durch die Einheitliche Europäische Akte 1987 und die Verträge von Maastricht 1992, Amsterdam 1999 und Nizza 2003 nicht mehr.

Auch die Direktwahl der Abgeordneten kam später. Zwar sah schon der EGKS-Vertrag die Möglichkeit vor, die Abgeordneten der Versammlung direkt wählen zu lassen. Davon machte allerdings kein Staat Gebrauch. In den Regierungsverhandlungen zur Gründung von EWG und EAG schlug der italienische Außenminister Martino vor, die Mitglieder der Versammlung in allgemeiner und direkter Wahl durch die Bevölkerung der einzelnen Mitgliedsstaaten zu bestimmen. Die anderen fünf Außenminister lehnten diesen Vorschlag jedoch ab, da sie den Zeitpunkt einer allgemeinen Direktwahl für verfrüht hielten. Tatsächlich befürchteten sie Schwierigkeiten mit ihren nationalen Parlamenten, die an einem europäischen "Konkurrenzorgan" kein Interesse haben konnten. Erst 1976 beschlossen die Mitgliedstaaten den "Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments". Erstmals wurden dann vom 7.-10. Juni 1979 die Wahlen abgehalten.

 

PARLAMENTARIERKONFERENZ MIT AFRIKANISCHEN STAATEN

Wenige Tage nach der Wahl Furlers zum Präsidenten beschloss das Europäische Parlament auf seine Anregung am 31. März 1960, eine gemeinsame Konferenz mit den Parlamenten Madagaskars und derjenigen Staaten Afrikas durchzuführen, die vor ihrer Unabhängigkeit von Frankreich, Belgien, Holland und Italien abhängig waren. Im EWG-Vertrag hatten die Mitgliedstaaten 1957 vorgesehen, ihre Kolonien der Gemeinschaft zu assoziieren, um ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu fördern. Die entsprechenden Bestimmungen waren mit der Unabhängigkeit dieser Staaten überholt. Die darin formulierten Ziele sind allerdings noch heute Grundlage der europäischen Entwicklungspolitik. Der Weg der afrikanischen Staaten in die Unabhängigkeit verlief unterschiedlich und war teilweise durch erhebliche Spannungen mit den ursprünglichen Kolonialmächten geprägt. Diese Entwicklung war 1960 noch in vollem Gange. In dieser Situation war eine gemeinsame Parlamentarierkonferenz ein großes Wagnis.

Bei den Vorbereitungen für dieses Treffen wollte Furler um jeden Preis den Eindruck vermeiden, die angestrebten Kontakte gingen von den früheren Kolonialmächten aus oder dienten einem "Pseudo-Kolonialismus". Er legte deshalb Wert darauf, die Souveränität der afrikanischen Staaten und die Stellung ihrer Parlamente unabhängig von der jeweiligen Verfassungswirklichkeit zu respektieren. Deshalb verschickte er die Einladung zur Konferenz und den vorbereitenden Sitzungen direkt und weder über den Ministerrat, noch über die Botschaften der Mitgliedstaaten. Dieses eigenständige Vorgehen des Parlaments wurde von Frankreich scharf missbilligt, bei den anderen Mitgliedstaaten erregte es Misstrauen. Was hatten Parlamentarier sich in Angelegenheiten der Regierungen einzumischen? Furler gelang es, in persönlichen Gesprächen mit den Außenministern alle Vorbehalte zu überwinden. Am 19. Oktober 1960 billigte der Ministerrat die Initiative des Europäischen Parlaments.

Nach vorbereitenden Konferenzen in Rom im Januar und in Bonn im Mai 1961 trafen sich im Juni desselben Jahres die 142 Mitglieder des Europäischen Parlaments und 112 Vertreter von Parlamenten sechzehn afrikanischer Staaten zu einer ersten parlamentarischen Konferenz in Straßburg, wo sie über ein zukünftiges Assoziationsabkommen diskutierten. Später tagte der "Paritätische Ausschuss" zweimal jährlich. 1963 wurde dann in Yaounde (Kamerun) das Assoziationsabkommen unterzeichnet, das auch eine jährliche "Parlamentarische Konferenz der Assoziation" vorsah. Die Treffen der Parlamentarier auf Initiative des Europäischen Parlaments waren ein wesentlicher Schritt zur Vorbereitung dieses und der nachfolgenden Abkommen. Die Wochenzeitung "Das Parlament" urteilte im März 1962: "Wenn die afrikanischen Staatsmänner und Parlamentarier an dem großen Gedanken der Partnerschaft zwischen den beiden Kontinenten festhalten, so ist das sicherlich nicht zuletzt der positiven Einstellung des Europäischen Parlaments und seines Präsidenten zu verdanken."

Mit der Idee zu dieser Konferenz zeichnete Furler einen Weg vor, den das Europäische Parlament später oft eingeschlagen hat. Es ergriff Initiativen, zu denen es zwar nicht ausdrücklich ermächtigt ist, die ihm in den Verträgen aber auch nicht untersagt sind. Es ist eben diese Strategie, mit dem es die Integration voranbringt und seinen eigenen Einfluss verstärkt hat.

 

DER EUROPÄER HANS FURLER

Eine persönliche Würdigung des Europäers Hans Furler ist nur noch einigen Zeitzeugen möglich. Seine Verdienste um ein bürgernäheres und demokratisches Europa sind unbestreitbar. Als Präsident pflegte er die Tradition von Pressekonferenzen in Straßburg, um über die Arbeit der Gemeinsamen Versammlung und später des Europäischen Parlaments zu unterrichten. Der "große Kämpfer für Europa", wie ihn Georges Spénale, der sozialistische spätere Präsident des Europäischen Parlaments bezeichnete, überzeugte durch Loyalität, Qualität und Aufrichtigkeit. Konfrontation oder Polemik lagen ihm nicht. Er versuchte lieber, Probleme im Gespräch bei einem gemeinsamen Essen zu lösen. Für seine Arbeit gilt, was er 1967 so ausdrückte: "Die stille, zähe Arbeit und das klare Ziel sind sehr viel entscheidender als (…) Deklamationen."

Wer anhand von Furlers Reden und Veröffentlichungen versucht, die Motive für sein europäisches Engagement zu finden, kommt zwangsläufig zur Trias Frieden, Freiheit und Wohlstand, die auch in den EG-Verträgen erwähnt ist. Er stößt aber auch auf immer noch aktuelle Forderungen wie die nach einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik oder die nach guten transatlantischen Beziehungen. Insofern hat Furler ein Vermächtnis hinterlassen.

 

 

   
Claudia Philipp,Jahrgang 1985, ist Abiturientin am Hans-Furler-Gymnasium im badischen Oberkirch, in dem Furler von seiner Heirat 1937 bis zu seinem Tode am 29. Juni 1975 lebte.
Der Beitrag basiert auf einer Seminararbeit im Fach Geschichte. 

 


 

 


Copyright ©   2004  LpB Baden-Württemberg   HOME

Kontakt / Vorschläge / Verbesserungen bitte an: lpb@lpb-bw.de